So what, oder: Gedanken über eine Kultur des Scheiterns

Liebe Leser_innen,

„Lustvoll scheitern“. Das war ein Vorschlag für eine Überschrift im Rahmen einer Fortbildung (Großgruppenbegleitung/Open Space) an der ich in diesem Frühjahr teilnahm, und das Thema „Scheitern“ ist mir seitdem auf vielen Veranstaltungen über den Weg gelaufen. Sei es bei dem tollen digital media women-Abend während der re:publica oder in meinen Workshops. Und ja, ich kenne es auch.

„Lustvoll scheitern“ wurde auf besagter Fortbildung nicht angenommen und dies zeigt auch schon die gespaltene* Haltung (*Wortwitz der sich noch aufklärt) zum Scheitern auf: da sind die einen, die sagen „Scheitern ist eine Teil unseres Lebens. In allen Bereichen. Und wir brauchen endlich eine Kultur dafür. Einen Umgang, der es uns ermöglicht ihm lustvoll und erhobenen Hauptes zu begegnen.“ Und die anderen die sagen „Nein, das ist so negativ. Das klingt nach aufgeben. Damit will ich mich doch gar nicht erst beschäftigen.“

Ich gehöre eindeutig zu Ersteren. Was Ihnen heute diesen Blogbeitrag beschert.

Das Wort „Scheitern“ wurde erstmals 1539 erwähnt, als von einem Menschen berichtet wurde, der sein Fahrzeug in Trümmer legte, in einzelne Scheite, und ist somit als Plural dessen zu verstehen. Auch wurde es in der Seemannssprache verwendet im Sinne von „Schiffbruch erleiden“. Also immer dann, wenn etwas in die Brüche geht. Nachzulesen ist dies in dem Buch Scheitern: Die Schattenseiten des Daseins, in dem auch eine Wortverwandtschaft zu „Bankrott gehen“, betrügen, verfehlen und fehlgehen ausgemacht wird.
Wenn wir heute über das Scheitern reden, dann meinen wir in der Regel keine Schiffe und Fahrzeuge mehr, deren Holzscheite, sichtbar für alle, sich Spalten und zu Bruch gehen. Wenn wir heute über das Scheitern reden, dann meinen wir das viel umfassender. Scheitern kann sich auf all unsere Lebensbereiche beziehen und meint immer, dass eine Vorstellung die wir von etwas hatten – sei es eine Geschäftsidee, eine Ehe oder ein Kunstwerk – nicht die Form annimmt, die wir ihr ursprünglich zugedacht hatten. Streng genommen zerbricht also nichts, was schon existiert. Lediglich die Idee davon. Ein Gedanke, den ich erstmal sehr beruhigend finde.

Ich habe in einem Text von Jan Silberberger über Improvisation als Methode eine ebenso beruhigende Definition des Scheiterns gefunden:
„Scheitern bezeichnet ein Vorgehen, das in die Tiefe einer Fragestellung zielt, deren innere Struktur bearbeitet. Scheitern ist das Spalten einer alten Vorstellung in andere, möglicherweise neue Vorstellungen.“

Was passiert also nochmal beim Scheitern?
Beim Scheitern zerbricht nicht meine Ehe, es zerbricht lediglich die Vorstellung die ich von ihr hatte. Wenn ich geschäftlich Bankrott gehe, dann ist dies Ausdruck dessen, dass mein Geschäftsmodell so, wie ich es mir vorgestellt habe, nicht funktioniert. Das Bild, das ich gemalt, hat nicht den Ausdruck, nicht die Wirkung, die ich mir vorgestellt habe.
Nicht wir scheitern. Unsere Ideen scheitern/zerbrechen. (Emotionale) Bilder die wir hatten.

Um eine Kultur des Scheiterns zu entwickeln lohnt es sich der Frage nachzugehen, warum denn – wenn doch eigentlich gar nichts was wirklich schon ist zu Bruch geht – es eine solche Abwehr gegen das Scheitern gibt, und vor allem, so ein starkes Festhalten an den eigenen Vorstellungen. Selbst wenn das Leben diese schon längst Lügen gestraft hat.

Die, die uns hindern das Scheitern in den unterschiedlichsten Lebensbereichen einzugestehen sind dieselben, die uns auch oftmals daran hindern ein Vorhaben erst anzugehen: unser „Innerer Kritiker“ der für die Bewertung und Beurteilung unserer Kompetenzen zuständig ist, für das was ich nicht kann, was ich falsch mache; und unser „Innerer Zensor“ der für „das macht man nicht“, unsere Moral und Konventionen zuständig ist.
„Wie steh ich denn jetzt da, wenn ich mich scheiden lasse? Ich habe versagt! Ich bin nicht einmal dazu fähig den Laden hier am Laufen zu halten. Ich kann das eben nicht.“
Ein weiteres Phänomen blind an dem, was nicht gut tut, nicht funktioniert, festzuhalten ist (laut Aufhören, bevor es zu spät, Psychologie Heute, Juni 2013) der Gedanke: „Jetzt habe ich schon so viel investiert, so viel Geld, Mühe, Lebenszeit reingesteckt. Wenn ich jetzt aufgebe, dann war das alles umsonst. Ich stecke einfach noch mehr (Geld, Mühe, Lebenszeit) rein. Dann muss es doch klappen.“
Stoisch. Als sei dies eine bewiesene mathematische Formel. Und als Sie wüssten nicht schon längst, dass Sie sich ein Fass ohne Boden angelacht haben, tragen Sie weiter Ihren Krug zum Brunnen, überzeugt davon, dass er dieses eine Mal eben nicht bricht, bei all dem Geld, der Mühe … und können doch lediglich einen Phyrrussieg erringen.

Ja, das Eingeständnis des Scheiterns geht mit der Überprüfung des Selbstbildes und den Vorstellungen vom Leben einher. Sie haben sich getäuscht. Und dieses Eingeständnis ist das Ende einer Täuschung. Das passiert, oder: so what.

Und genau hier liegt Ihre Chance. Solange sie an ihren alten Vorstellungen festhalten ist das wie „ein totes Pferd reiten“. Es kann kein Veränderung, keine Bewegung mehr stattfinden. Erst das Loslassen der alten, und offensichtlich überholten, Vorstellung, erst das Spalten, bietet die Möglichkeit für neue Vorstellungen. Vorstellungen die zu Ihnen, zu dem wie Sie jetzt und heute sind, passen (manches Mal ist schlicht nur zu viel Zeit vergangen zwischen dem Entstehen ihrer Idee und dem wer Sie heute sind und wie Sie leben wollen).

Verzeihen Sie mir, dass ich an dieser Stelle so salopp das Wort Loslassen in den Raum werfe. Auch ich neige dazu auf „lass doch einfach los“ mit Wutanfällen zu reagieren. Aber mal im Ernst: wir können es ja alle. Wir sind alle Meister dieser „passiven Aktivität“. Wir tun es täglich. Wir atmen ein, und wieder aus. Das Atmen braucht beides. Das aktive und das passive. Sie können das. Sie tun es. Jetzt gerade.

Das Loslassen der alten Vorstellung ist also der erste und entscheidende Schritt des Scheiterns. Und, um noch einmal auf die Kultur der Scheiterns zurückzukommen, ich bin ja auch ein große Verfechterin einer Kultur der Anerkennung. Die Menschen, die Dinge in ihrem „so sein“ anzuerkennen. Der Akt des Loslassens ist das Anerkennen unserer Selbst. Es hat nicht geklappt. So what.

Und ja, nehmen Sie sich ruhig Zeit dafür, nehmen Sie Abschied, trauern Sie – und dann besinnen Sie sich auf das, was sie ursprünglich mal verwirklichen wollten (mit ihrer Ehe, ihrer Geschäftsidee, ihrem Werk). Das, was sie erreichen wollten, ihre Vision, ist Ausdruck einer Werteverwirklichung. Es ist ein Gefühl. Ein Zustand, den sie anstrebten, und den Sie, vielleicht, vor lauter Alltag und Schufterei, vor lauter Fixierung auf ein klar definiertes, greif – und berechenbares Ziel, aus den Augen, oder besser, aus ihrem Herzen verloren haben.
Vielleicht haben Sie noch was zu lernen, eine ganz bestimmte Fähigkeit, vielleicht haben Sie sich mit Menschen zusammen getan, die was ganz anders wollten als Sie, vielleicht geht es darum Ihren Wertekanon zu überprüfen und neu zu ordnen und vielleicht erhält ihre Identität, Ihr Selbstbild, ein neues Kleid.

Auf jeden Fall werden Sie leichter sein, gegen Windmühlen kämpft es sich so schwer, und wieder in der Lage sich fortzubewegen. Dem toten Pferd können Sie gerne die gebührende Ehre erweisen. Es hat sie ja ganz schön lang getragen.

Ein Sicherheitsnetz für das mögliche Scheitern gibt es nicht, und doch macht es Sinn zurückzublicken und sich Ihr Aufstehen in der Vergangenheit vor Augen zu führen. So haben Sie die Möglichkeit, quasi nach dem Hinfallen und Loslassen, Unterstützung für Ihr Aufstehen parat zu haben. Und zwar nicht irgendeine, aus einem Buch, einem Blog, oder die guten Ratschläge von Freunden, sondern Ihre ganz individuelle, personalisierte; eine, von der Sie wissen, dass sie Ihnen entspricht, da kein_e Geringere_r als Sie dessen Autor_in sind.

What defines us is how well we rise after falling (Lionel from Maid in Manhatten 2002)

Ich wünsche Ihnen Gelassenheit beim Loslassen und freudiges Staunen beim Aufstehen.

Tanja Ries

P.S. Noch ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Drama-Queens unter uns: das Baden im Loslassen – „Ich habe mich getäuscht. Ich bin gescheitert“ (Handrücken-an-den-Kopf-leg. Sie kennen das) – ist nicht als Dauerzustand gedacht, sondern sollte nach entsprechender Zeit abgelöst werden durch aktives Handeln, also der Manifestation des Neuen, inclusive ordentlicher Beerdigung des Toten Pferdes.

Ein Gedanke zu “So what, oder: Gedanken über eine Kultur des Scheiterns

  1. Beruflich oder privat kann scheitern auch damit zu tun haben, dass die Versuche, anzukommen (wann tut man dies wirklich?) nicht mit den erprobten (bekannten) aber auch neuen Methoden zu bewerkstelligen sind. Das ist schmerzlich und dieses Gefühl darf geachtet werden bevor es weitergeht (mit neuer Freude, neuem Elan und neuem Wissen/Ideen). Alles braucht seine Zeit.

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